frieda r. im Gespräch mit dem Autor Hubertus von Prittwitz
Im Europa Verlag ist Skarabäus, der Debütroman von Hubertus von Prittwitz, erschienen. Friederike Römhild, Lektorin, Dramaturgin und Autorenberaterin aus Berlin, hat den Autor in Kreuzberg getroffen und mit ihm über seine adelige Herkunft und Familiengeschichte, seine Flucht in die Hölle und die Frage gesprochen, wann ein Mensch eigentlich frei ist.
Wie lange hast du an deinem Roman gearbeitet?
Ich habe 40 Jahre darauf gewartet, dieses Buch zu schreiben. Ich habe als Kind einen Roman gelesen, Sonnenfinsternis, den ich im Regal von meinem Vater entdeckte, und dachte mir, das Buch schreibe ich auch über meine Familie. Denn dieser Mann, der von der kommunistischen Partei inhaftiert wird und der weiß, dass er erschossen werden wird, hat mich stark an mein eigenes Schicksal erinnert. Der klopft immer mit dem Kneifer von seiner Brille gegen die Heizungsrohre im Gefängnis und nimmt mit den anderen Insassen Kontakt auf. Ich habe geistig und emotional auch an Heizungsrohre geklopft, um Signale aus meiner Familie zu empfangen. Richtig gearbeitet an Skarabäus habe ich erst die letzten zwei, drei Jahre mit dir, Friederike. Vorher habe ich mich nicht getraut, mich an meine eigene Person, an mein eigenes Leben heranzuwagen.
Du stammst einem Adelsgeschlecht ab. Worin besteht die Bürde einer solchen Familie?
Die Bürde ist natürlich der Druck, der mit der Familientradition einhergeht, der man irgendwie gerecht werden soll. Ich erzähle, wie ich als ein Thronfolger für ein Königreich erzogen wurde, das es gar nicht mehr gibt. Das macht es so absurd. Man ist überhaupt nicht in der Lage, den Traditionen gerecht zu werden, weil man dem heutigen oder seit 200 Jahren andauernden Drang der Menschen zur Individualisierung nicht mehr nachkommen kann. Das schneidet einen von der Familiengeschichte ab. Und das ist der große Vorteil dieser Familiengeschichte, dass man zugleich entindividualisiert wird und feststellt, dass man Teil eines fortlaufenden Prozesses ist, der sich über Generationen erstreckt und weit über einen selbst hinausgeht. Das stellt auch eine Erlösung dar.
Man ist überhaupt nicht in der Lage, den Traditionen gerecht zu werden.
Das Problem ist eher der Konflikt mit neuen historischen Entwicklungen als die Bürde selbst?
Ja und Nein. Bei meinem Adelsgeschlecht ist es so, dass durch Flucht und Vertreibung alles verloren ist. Und selbst die Wiedervereinigung hat uns nicht zurück in unsere Schlösser gebracht, denn die sind ja in Polen oder Schlesien. Hinzukommt, dass die Familie von Prittwitz eine blutrünstige Kreuzritterfamilie war. Das ist aus heutiger Sicht absolut abscheulich. Das zeigt sich wunderbar in der Figur des Terror, der bis in meine Kindheit als Familienheld dargestellt wurde. Aber nach der Wende war Terrorismus nichts, was mit Heldenmut zu tun hatte.
Wer ist Terror?
Terror Tartarorum ist ein Mann aus dem 16. Jahrhundert, der im heutigen Osteuropa bis zur Krim die Tartaren gemäßigt und dem Mufti von Istanbul ein Einhorn gestohlen hat. Er hat die moderne Kriegsführung der damaligen Zeit, die Reiterei mit Pfeil und Bogen, nach Europa gebracht. Etwas, das eigentlich Hannibal zugeschrieben wird. Das spannende an Terror ist, dass wir in eine unbekannte Vorzeit kommen, die etwas mit Osteuropa zu tun hat und letztendlich sogar mit China. Und darüber ist wahnsinnig wenig dokumentiert. Terrors Kriegstaktik hat dazu geführt, dass sich die Mongolen nicht in Europa festsetzen konnten.
Wie bist du Terror, dieser Familiengeschichte das erste Mal begegnet?
Terror Tartarorum, so heißt er wirklich, hing als Bild im Schloss meines Urgroßvaters Praetorius und hat mir als Kind riesige Angst eingeflößt. Der Name Praetorius bedeutet Torwächter. Er hat als Vorbild gedient für den Torwächter von Kafka. Und Tartarorum ist römisch. Es geht also um Osteuropa und eine unbekannte Kultur, die einen römischen Namen bekommt. Im Deutschen heißt Tartarorum West-West – Westwest ist eine ganz bekannte Figur in Kafkas Das Schloss, die über das Gemälde wunderbar erklärt wird. In meinem Roman wandern also Angst und Schrecken – Terror – westwärts.
Können wir Leser:innen die Tragweite dieser historischen Verflechtungen überhaupt erfassen, während wir über die Kindheit und Jugend des Helden Friedrichs lesen?
Ich will keine geheimnisvolle Schnitzeljagd mit meinem Roman machen. Ich habe diese Aspekte gekennzeichnet, teilweise ein bisschen verspielt. Ich fange zum Beispiel damit an, dass der Aufkleber »Ein Herz für Kinder« zu »Kein Herz für Inder« wird, womit ich zeige, dass Buchstaben und Wörter unterschiedliche Bedeutungen haben oder diese wechseln können. Ich übertrage die Anspielungen unmittelbar auf die Realität. Friedrich wird als Jugendlicher eine Zeit in Indien leben und die Armut der Slums kennenlernen, die direkt an die Gegenden der Reichsten dieses Landes grenzen. Dort lernt er, dass die Bedeutungskonventionen ganz andere sind als in Deutschland.
Er kann das Kriegsgrollen hören.
Im Zentrum steht der anfangs achtjährige Friedrich, der sich gewissermaßen im Krieg befindet. Wer ist dieser Friedrich und wer sind seine stärksten Gegner in der Familie?
Friedrich wird zu einem Krieger, eigentlich zu einem Serienmörder erzogen. Meine eigene Erziehung kann ich nicht bewerten. Ich habe mir nur diesen einen Aspekt herausgepickt. Friedrich befindet sich zwischen den Fronten, im Niemandsland, hin- und hergerissen zwischen Mutter und Vater, die sich scheiden lassen. Aber er kann das Kriegsgrollen hören. Und seine Feinde sind zwangsgestörte Menschen, die durch die Familiengeschichte und das, was sie erlebt haben, traumatisiert sind.
Wer sind diese Menschen?
Der Vater denkt, dass alles stirbt, was er liebt und er deswegen nicht lieben darf. Er hat Berührungsangst und wählt seine zweite Frau als Stellvertreterin aus. Sie muss Friedrich immer und immer wieder auf fieseste Art missbrauchen. In den Augen des Vaters macht sie das viel besser als Friedrichs leibliche Mutter, die genau deshalb gehen muss, damit jemand kommt, der seinen Willen exakt ausführt. Im Gegenzug bewahrt der Vater das Geheimnis seiner zweiten Frau und beschützt sie vor ihren Dämonen. Die beiden ergänzen sich wunderbar. Und dann gibt es Gegenspieler, die man nicht so ganz als Feinde wahrnimmt. Zum Beispiel seine leibliche Mutter, auch wenn sie später versucht, ihren Sohn zu retten, seine Schwester oder auch Lehrer. Die Welt da draußen.
Stasi- und KGB-Agenten folgen einem superkapitalistischen Lebenswandel.
Der Roman spielt zunächst vor allem drinnen, in Friedrichs Elternhaus. Sein Kosmos ist Neuried, was ist das für eine Gegend?
Neuried ist das Dorf der Spione und eine Neubausiedlung, die die Bauern vor München freigegeben hatten, um ein neues Dorf zu bauen. Neuried kommt von »neuer Rodung« und ist älter als München. Dort sah man die Natur als den Feind an. Dieses Verhältnis hat sich heute verändert, aber die Menschen tun weiter so, als müssten sie die Natur beherrschen, dabei gibt es mit der Natur mittlerweile ein ganz anderes Problem. Auch da sieht man, wie Tradition und Gesellschaft in Konflikt geraten. Im Dorf der Spione leben sehr viele BNDler, die von Geheimdiensten aus aller Welt bespitzelt werden. Die Stasi- und KGB-Agenten folgen einem aufwendigen, superkapitalistischen Lebenswandel, während die Geheimdienstler des Westens absichtlich ein langweiliges und bescheidenes Leben führen, um nicht, wie sie alle glauben, aufzufallen. Dass ist die Perversion der westlichen Gesellschaft, in der die Armen Formel-1-Sportwagen in ihrer Freizeit fahren und die reichen Leute keinen Urlaub machen. Für Friedrich erweist sich diese Logik immer wieder als schwachsinnig, genau wie das Männer- und Frauenbild, das überhaupt nicht in Einklang zu bringen ist mit dem konservativ-altertümlichen Bild bei sich zu Hause.
Friedrich erfährt in dieser begrenzten Welt eine schwere Traumatisierung. Wie zeigt sie sich?
Transgenerationale Traumatisierungen sind ein Modethema. Ich zeige auf, dass die Gesellschaft als solche traumatisiert ist, gerade weil sie damit, wie sie der Natur etwas abgerungen hat, erfolgreich war. Heute sehen wir, dass man die Natur zerstört hat, und so stellt sich die gesellschaftliche Traumatisierung als eine Sinnlosigkeit der alten Mechanismen dar. Friedrich entwickelt durch den individuellen Missbrauch eine echte Traumatisierung, die sich bei ihm und seinen Eltern in Wiederholungsschleifen zeigt. Ständig werden Sachen wiederholt, vor allem schlechte Witze, und man weiß überhaupt nicht, was das soll. Auch Friedrich fängt an, alles zu wiederholen, und die Gedanken drehen sich wie die Dungkugel eines Skarabäus im Kreis. Die einzelnen Personen verzweifeln daran, dass sie zwangsgestört immer wieder denselben Mist wiederholen müssen.
Wie äußert sich das im Alltag, im Verhalten des Jungen?
Das äußert sich in paranoiden Wahnvorstellungen, selbstverletzendem Verhalten, Abspalten der eigenen Persönlichkeit. Es bedeutet vor allen Dingen eine sexuelle Unsicherheit, Friedrich arbeitet als Callboy, um ungestört und am besten auch finanziell abgesichert zu sein. Er wird eine Hure. Es geht nicht um das Geld als solches, sondern um die Sicherheit, um seine Angst. Er nimmt das eigene Geschlecht nicht mehr wahr und versucht, das Geschlecht seiner Stiefmutter anzunehmen, um nicht mehr wie ein Opfer zu riechen. Dann die sogenannte REM-Schlaf-Verhaltensstörung, bei der man nachts aufwacht und um sich schlägt. Er entwickelt eine andere Schmerzschwelle, permanente Kopfschmerzen und Übelkeit. Ich hatte all diese Probleme, davon ist nichts erfunden.
Wie versucht Friedrich sein Trauma in den Griff zu bekommen? Er hat eine Neigung zu Ordnungen.
Dieser Ordnungssinn ist übertrieben, das ist Autismus und eine zwanghafte Störung, die ihm hilft, seine Nervosität zu überwinden. Das steigert sich so weit, dass er versucht zu fliehen, aber in der Flucht auch wieder in der Hölle landet. Er versucht zwar, sich der Traumatisierung zu widersetzen, ist aber darauf angewiesen, die Verhaltensweisen seiner Eltern anzunehmen, um sich selbst zu heilen. Das geht natürlich schief.
Die Potenz, der Stammhalter ist ein sehr wichtiges Thema.
Gerät er nicht auch in die Prostitution, um seine eigene Flucht zu finanzieren?
Es ist mehr die Angst vor Sexualität, die einen in die Prostitution treibt. Da gerät man nicht hinein, sondern das wählt man, um die eigene Angst zu kontrollieren. Da geht es um einen gesellschaftlichen Standard. Die Potenz, der Stammhalter ist ein sehr wichtiges Thema in solchen Familien. Für Frauen gilt das auch, aber da sollen andere was zu sagen. Ich sehe nur diese Angst. Friedrich hält es in Räumen nicht aus und will als Kind am liebsten auf einem Baum leben. Dieses Bild setzt sich weiter fort, und mit der Prostitution beschreibe ich schon die erste Flucht.
Die Teilung Deutschlands nimmst du als psychologisches Mittel, um die Familienstruktur als System darzustellen. Wer ist der Westen, wer ist der Osten in der Familie?
Ich entwickle kein Bild von Ost und West, das ich auf die Familie übertrage. Die politische Geschichte hat sich in die Familiengeschichte eingeschrieben. Da sind wir wieder beim Druck. Friedrichs Vater ist hochrangiger Geheimdienstagent und teilt die Familie in Ost und West, um seiner Arbeit besser nachkommen zu können. Friedrich ist der Osten und wird so behandelt, wie sich sein Vater einen Ossi vorgestellt hat, gleichzeitig wächst er im reichen Westen auf, im verwöhnten München. Und seine Schwester, die leibliche Mutter und ihr zweiter Mann sind der Inbegriff des kapitalistischen Wessis, hoch narzisstisch und wahnsinnig reich. Ständig wird die neueste Technik gekauft und übertrieben damit angegeben. Sie sind extrem amerikanisiert, züchten Dalmatiner und leben trotzdem mit Milliarden von Fliegen in der Wohnung.
Die Grenzen fangen etwa 150 Meter vom eigenen Haus entfernt an.
Friedrich darf seine Mutter nicht besuchen. Wo verläuft die Grenze zu ihr?
Friedrich muss immer nach Meerbusch fliegen, dem reichen Vorort von Düsseldorf. In der Einflugschneise donnern die modernen Flugzeuge über diesen Vorort, der einmal idyllisch war. Und dann wacht der Geheimdienstler in Friedrich auf, der die Grenzen nicht übertreten darf. Das wird heute wunderbar dargestellt in Filmen, in denen Menschen irgendwann mit einem Paddelboot an eine unsichtbare Wand stoßen. In so einer virtuellen Welt bin ich groß geworden, und die Grenzen fangen etwa 150 Meter vom eigenen Haus entfernt an. Das greife ich später in Afrika auf, wo ich einen Führer bezahle und nach 150 Metern sagt er, »ab jetzt weiß ich nicht mehr weiter«. Das ist wirklich passiert. Friedrichs Welt ist international und er weiß, dass es eine viel größere Welt gibt. Doch bei der ersten richtigen Flucht ist er nach ein paar hundert Metern völlig verloren …
… und kehrt wieder um.
Und dann schafft er eine Flucht ins Kino nach München und wird zum Einbrecher. In dieser Flucht fühlt er sich schon wohler.
Wer sind seine Helfer bei seiner Flucht nach München?
Das ist die Nachbarsfamilie, die total verstört ist, dass sie in diesem Dorf der Spione gelandet ist und gar nicht wahrhaben kann, dass es sowas gibt. Sie sind die neue Welt, die neue Zeit, die anbricht. Sie sind ökologisch bewusst, die Frau hat eine ganze andere Rolle in der Familie als seine Mutter, es gibt eine Art von Gleichberechtigung, der Vater ist Professor und geht gerne in Nepal Bergsteigen. Und diese Welt rettet Friedrich, weil es da Essen gibt und er da hindarf, um Sören zu treffen.
Er erlebt dort Momente der Erleichterung. Gibt es schöne Momente in deinem Roman?
Es war mir wichtig, dass ich das Schöne als schön markiere. Friedrich gestatte ich erst am Ende, als die Flucht gelingt und er in der Hölle landet, eine bizarre Schönheit zu empfinden. Vorher ist es so, dass er die Schönheit nicht wahrnimmt, aber erkennt, wie komplett abgefahren gewisse Dinge sind. Zum Beispiel die Sache mit den Einbrüchen, sie sind ein Traum für ihn. Er sieht auch ganz kurz die Schönheit, als er auf der Autobahn fährt.
Da ist er zehn Jahre alt, steuert ein Auto und ist Teil einer Gruppe Jungs. Was machen die mit ihm?
Die bauen ein Gerät, mit dem er Auto fahren kann, einen Käfig, in dem er frei ist. Und dann sieht er ganz kurz die Schönheit der Landschaft, aber nur als ein Seelengemälde vor seinem inneren Auge. Das ist eigentlich ein Spieleklub von Kindern. Da sind zwei Halbstarke dabei, die schon als Einbrecher für Titten-Billy und Tripper-Toni, die ich als Kind tatsächlich kennengelernt habe, gearbeitet haben. Diese beiden Typen wollen Kindern helfen, solange sie noch nicht straffällig werden können. Deswegen beschäftigen sie nur Kinder aus Waisenheimen. Aber die beiden Halbstarken bringen Friedrich da unter. Sie zeigen ihm, dass man sich rücksichtslos das nimmt, was man will, und nicht über die Konsequenzen nachdenkt, also ein typisch kriminelles Verhalten.
Friedrich wird groß und stark. Er wird zu einem Star.
Nach den ersten gescheiterten Fluchtversuchen aus der kleinen, engen Welt führt ihn seine Flucht weit über München hinaus nach Indien. Gelingt ihm die Flucht?
Ja, die Flucht gelingt. Aber die Flucht nach Indien ist keine echte Flucht. Das Lebenskonzept des Vaters scheitert. Franz-Joseph Strauß, der damalige Ministerpräsident von Bayern, ist so wütend auf meinen Vater, weil dieser Milliardenkredite an die DDR vermittelt hat, um den Osten zu kaufen, dass Praetorius sich versetzen lassen muss. In Indien hat Friedrichs leibliche Mutter keinen Einfluss auf ihn. Es fällt viel von der Angst der Eltern weg, die das Kind eingesperrt hatten, um es in Sicherheit zu wiegen. Friedrich wird groß und stark. Er wird zu einem Star. In Indien erfährt er, dass es eine vollkommen andere Welt gibt, die funktioniert, aber aus deutscher Sicht völlig apokalyptisch ist. Die Leute leben massenweise auf der Straße und Frauen werden ganz komisch behandelt. Friedrich begreift, wie absurd die Heldenverehrung in seiner Familie ist. Dass ist seine Rettung und gibt ihm die Kraft, den großen Sprung zu wagen. Ich, also Friedrich, wurde vergöttert. Warum sollte ich nicht woanders hingehen und dasselbe nochmal erfahren? Mit der eigentlichen Flucht in den Sudan führe ich die Leser:innen dann vollkommen aus der Geschichte heraus.
In Indien lebt Friedrich knapp zwei Jahre lang, dann muss er nach Deutschland zurück, um sein Abitur zu machen. Ist sein Umfeld da erneut ein eher adeliges?
Es ist ein Mélange aus Adelsmilieu, internationalem Industriellentum und Diplomatentum. Er kommt nach Hinterzarten im dunklen Schwarzwald und besucht ein Internat. Da gibt es eine kleine Nebengeschichte um Hermann Hesse und dessen Leben, der auch von christlichen Eltern geraubt wurde, in Indien lebte und dann im Schwarzwald komplett depressiv wurde. Im Schwarzwald setzt sich der Zwang fort, das Familiengefängnis aufrecht zu erhalten. Sein Vater verpfeift ihn an die Bundeswehr, damit Friedrich ihm dient und das Töten lernt. Im Prinzip müsste er nicht zur Bundeswehr, da er im Ausland gemeldet ist. Aber die Überwachung geht weiter. Sein Vater versucht ein Treffen zwischen ihm und seiner leiblichen Mutter zu verhindern, und nimmt ihm sein Geld weg.
Band 122, 2000.
Friedrich trifft tatsächlich auf seine leibliche Mutter, die ihn nicht wiedererkennt. Sind die großen Niederlagen der Grund, wieso er nicht vom Schwarzwald aus eine elitäre Karriere in den USA anstrebt, sondern sich für den Sudan entscheidet?
Seine Niederlagen bestätigen ihn. Er war in der Pubertät und hätte sagen können, »ok, vergessen wir die Kindheit, ich bin trotzdem in einem ziemlich wohlhabenden internationalen Umfeld groß geworden«. Doch im Schwarzwald zeigt sich, es ist alles noch viel schlimmer und wird gnadenlos weitergeführt. In den Sudan will er wegen Osama Bin Laden. Auch das ist keine Erfindung. Friedrich kriegt mit, dass sich dort ein junger Mann aus Saudi-Arabien an seinem Vater rächt und ein internationaler Terrorist wird, um die USA zu bestrafen. Er beobachtet, dass dessen Vater und die Geheimdienste dort nicht hinkommen, und dann weiß er, dass er dort sicher ist. Da sind wir dann wieder bei einer Art von Perversion. Friedrich trifft diese Entscheidung, weil nur die Gefahr draufzugehen, ihn frei macht. Ich war völlig angstfrei im Sudan und habe es wahnsinnig genossen, dort unterwegs zu sein. Es gab keinen Kontakt mehr mit Deutschland, es war fantastisch. Friedrich klettert über den Zaun der sudanesischen Botschaft und dringt in diese ein, um ein Visum zu kriegen, das an Wessis eigentlich nicht mehr vergeben wird.
Das Glücksgefühl überwiegt also das Grauen, ohne dass es die Freiheit nicht gibt?
Diese Flucht ist ein Selbstmordtrip und wahnsinnig schön. Friedrich kommt raus aus der Welt und erlebt, dass Vorurteile wie »geh da nicht hin, die Menschen dort sind supergefährlich« gar nicht stimmen, sondern die Menschen wahnsinnig freundlich und nett sind. Sie sind komplett unterdrückt, aber das findet er gar nicht schlimm, denn das kennt er, für ihn ist das bodenständig und echt. Die Reise durch die Wüste, die er dann macht, ist entbehrungsreich, aber schön, sie einigt ihn eher. Es ist eine fast biblische Reise. Er kommt in einen Heuschreckenschwarm und verzehrt die Heuschrecken, sie sind ein Segen für ihn. Aber diese Freiheit ist wieder nur vorübergehend. Friedrich hat ein Visum für einen Monat und müsste eigentlich umdrehen.
Fuck you, ich gehe jetzt zu Fuß weiter.
Wie kommt er in das Strafgefangenlager des Menschenfressers?
Indem er sich vom Widerstand der autokratischen Behörden des Sudans und des fundamental-islamistischen Regimes nicht aufhalten lässt. Friedrich sagt »Fuck you, ich gehe jetzt zu Fuß weiter«. Die Grenze ist aus politischen Gründen gesperrt. Es kommen nur muslimische Schmuggler über diese Grenze. Friedrich kommt in Zentralafrika also noch einmal in ein geteiltes Dorf und kriegt das nicht mit. Er denkt, die sind aber alle komisch hier. Der alte Teil von Birao wurde über Jahrhunderte immer wieder niedergebrannt und überfallen, die Leute dort wurden versklavt, und das hat sich in die Körper und in den Geist der Menschen eingeschrieben. Er landet in der ehemaligen Strafkolonie eines abwesenden Menschenfressers, eines Kannibalen, der natürlich ein Bild für den Vater ist.
Aber nicht der Vater geht da zugrunde, sondern Friedrich. Er hat kein Geld mehr, hat Hunger und kämpft um sein Überleben. Wie kommt er durch?
Er wird von innen heraus zerfressen, er erlebt schlimme Hungersymptome und Wahnvorstellungen. Da gibt es zwei, drei andere Obdachlose, die wie er Selbstgespräche führen und Zigaretten vom Boden aufsammeln. Er nimmt jede Hilfe an, die er kriegen kann. Das Militär, das vom Kinderhilfswerk der UNESCO aufrechterhalten wird, gibt ihm UNESCO-Futter. Flüchtlinge geben ihm Drogen, sodass er es ganz »nice« dort findet. Bei einer Kirche ohne Pfarrer ist ein Aufpasser des Stammes Baka, der Waldmenschen, der auch dahin verschleppt worden ist. Der tut so, als würde er Friedrich, der zusammengerollt daliegt, mit einer Machete beschützen. Und dann gibt es die französische Herrschaft, die die Diktatur in diesem Land etabliert hat und alte Ressentiments aus dem deutsch-französischen Krieg von 1872 auf ihn überträgt. Sie wollen, dass er am ausgestreckten Arm verhungert und dort zurückbleibt. Das führt dazu, dass die Einheimischen erkennen, dass auch er ein Ausgestoßener ist. Bis dahin war er für sie ein Fremdkörper, der aus dem kapitalistischen Westen gekommen ist, dem sie sagen, »was willst du hier, du bist doch selbst schuld«. Dann helfen sie ihm als Christen und retten ihm Weihnachten das Leben. Das ist eigentlich eine nette Weihnachtsgeschichte, aber sie ist so hart, da hört man wirklich keine Weihnachtsglocken läuten.
Das innere Kind kann nicht heilen.
Jetzt schließt sich der Kreis zur Bürde, nämlich dass der Lauf der Geschichte immer weitergeht, die Systeme der Unterdrückung nirgendwo aufhören. Friedrich gelingt seine Flucht immer nur etappenweise. Kommt er am Ende frei?
Nein, eigentlich ist er tot im Sudan. Das ist wieder so eine Kafka-Geschichte und meine Deutung von Kafka. Die Grausamkeiten finden in einem Zustand des Todes statt und sind Berichte von Toten. Friedrich geht durchs Niemandsland, in dem er sich als Kind schon befunden hat, um dann in einem geteilten Dorf aufs Übelste misshandelt zu werden und fast zu sterben. Am Ende, das ich nicht verrate, kommt er nach Berlin. Da lösen sich die Sachen nochmal politisch und mit Blick auf seine leibliche Mutter und seine Schwester auf. Das ist 1989/90.
Das Cover deines Buches zeigt einen Skarabäus. Welche Rolle spielt dieser Käfer?
Friedrich findet den Käfer als Handschmeichler und Glücksbringer im ägyptischen Museum in Kairo. Ich selbst habe jahrelang so einen Skarabäus als Schmuck um den Bauch getragen. Den eigentlichen Skarabäus hat mir meine Großmutter geschenkt, aber das ist eine andere Geschichte, die ich in diesem Buch nicht erzähle. Der Skarabäus stellt den Bezug zu den Gottheiten Ba und Ka her, die sich auch in dem Aufpasser widerspiegeln. Das Ungeziefer, die Geräte, die Strafkolonie sind Anspielungen auf Kafka. Das Ungeziefer ernährt sich von den Abfällen der Familie und kann die Zukunft vorhersagen. Kafka wollte, dass es ein Ungeziefer ist und explizit nicht der Skarabäus, aber der Skarabäus rollt die Dungkugel über das Firmament und wird vom roten Stern getötet, das ist der rote Apfel in Kafkas Verwandlung. Und die Kugel ist die Familiengeschichte, in der der Mistkäfer, ein wunderschönes Tier, seine eigene Brut steckt, die sich von seinem Mist ernährt. Skarabäus steht für den Reinkarnationsgedanken, einen Zyklus, der außerhalb unserer Macht liegt.
Mal sprichst du von Friedrich und mal von dir, Hubertus. Dir ist wichtig zu vermitteln, dass das wirklich so war. Es sind deine Erlebnisse. Wie viel Fakt und wie viel Fiktion enthält dein Roman?
Das ist alles Lebensgeschichte. Es gibt eine Szene, in der im Keller Aktenzeichen XY geguckt wird. Es stellt sich heraus, dass seine Stiefmutter keine Adelige ist und in einem Missbrauchslager groß wurde. Friedrichs Vater ermordet diesen Sektenführer. Es hat mir wahnsinnig viel Spaß gemacht, diese Geschichte zu schreiben. Ich habe sie wirklich erlebt, aber ein paar Jahrzehnte später mit einer Freundin, bei der die Mutter angerufen und gesagt hat, »mach mal den Fernseher an, der Onkel ist im Fernsehen«. Tatsächlich passiert ist, dass mein Vater zu mir gesagt hat, heute darfst du mal Fernsehen schauen, ich bin von der BBC angeheuert worden, als Berater ein paar Szenen in einem Thriller authentisch zu gestalten. In dem Thriller foltert ein Geheimdienstmann einen Terroristen, und Praetorius entdeckt, wie er diesen Mord ausüben kann. Mein Vater sagt »Das haben sie wirklich gut gemacht« und macht den Fernseher aus. Meine Stiefmutter und ich sitzen vollkommen entsetzt da, weil völlig klar ist, was mein Vater damit preisgibt. Diese Szene wollte ich unbedingt einfangen, aber ich wollte sie anders erzählen und habe deswegen die Geschichte mit meiner Freundin genommen. Das ist mir wichtig, dass die Teile der Geschichten erlebt sind.
Das heißt, es sind viel mehr wahre Begebenheiten in deinem Roman, als wir vermuten?
Die Wirklichkeit wurde verfremdet, um die Täter zu schützen. Sie, meine Stiefmutter und mein Vater, haben es verdient, dass ich sie schütze. Sie waren auf eine ganz andere Art Bestien. Das ist nicht der Grund, warum ich das jetzt erst veröffentliche. Der Grund ist, dass ich meinem Vater niemals zeigen wollte, was für fantastische Sachen ich mache.
Womit wir verstehen, warum du 40 Jahre an diesem Roman gearbeitet hast. Dein Vater ist inzwischen verstorben. In welchem Verhältnis stehen also Wahrheit und Lüge?
Etwas verstehen zu wollen, ist eine Zwangsstörung. Das Beharren auf Wahrheit ist nur die Konstruktion einer eigenen Wirklichkeit. Am Anfang heißt es »Die Wahrheit ist die beste Lüge«, und später heißt es dann »Die Lüge ist die beste Wahrheit«. Es ist idiotisch, nach Wahrheit zu suchen. Das ist auch eine Antwort auf Klimawandelleugner und Verschwörungstheoretiker. Das erkläre ich auch mit den Geheimgesellschaften. Eine Geheimgesellschaft ist nicht geheim, sondern nur die Mitgliedschaft bleibt geheim. Die moderne Wissenschaft geht davon aus, dass wir die Wahrheit nicht kennen müssen, deshalb brauchen wir das Experiment. Die Wissenschaft entsteht aus dem Ungewissen. Das Problem ist, dass das niemand in dieser Geschichte akzeptiert.
Ich wollte die Verarschung einer Coming-of-Age-Geschichte schreiben.
Damit ist die Frage nach Fakt und Fiktion ad absurdum geführt, weil es nur Konstruktionen von Wirklichkeit gibt. Wir suchen uns also aus, ob wir den Roman als Fiktion oder als Wahrheit lesen?
Es geht genau darum. Das Making-of meines Romans spiegelt nochmal den inhaltlichen Bezug zur Wahrheit und Lüge wider.
Warum hast du die personale Erzählperspektive gewählt und nicht die Ich-Perspektive wie die meisten Coming-of-Age-Romane?
(Hubertus lacht.) Ich wollte eine Verarschung einer Coming-of-Age-Geschichte schreiben, weil ich mich über Hermann Hesse lustig machen wollte. Als Jugendlicher habe ich Hesse geliebt, bis meine Familie mich dafür durch den Kakao gezogen hat. Dann wurde Hesse Schulthema, und ich habe gelernt, ihn zu hassen, weil ich Aufsätze schreiben sollte, obwohl es sowas wie Wahrheit nicht gibt. Vielmehr gehe ich wie durch ein Kaleidoskop. Aus gebrochenen Kacheln und Fliesen setzt sich das Bild meines Lebens zusammen. Ich brauchte unbedingt Friederike Römhild, um eine Diskussionspartnerin zu haben, die mir Fragen stellt, so wie jetzt, um diese Geschichte zu schöpfen. Ich musste in der dritten Person schreiben, weil ich mir überhaupt nicht sicher war, wer dieses Ich hätte sein sollen.
Ein Ich im reinen Sinne gibt es also nicht?
Dass wir eine Form der Individualisierung mit der Reinkarnation und irgendwelchen medizinischen Sachen verbinden, ist alles Irrsinn. Wir haben die traditionelle chinesische Medizin erfunden, und die Chinesen lachen sich darüber kaputt, was wir hier in Deutschland machen. Kein Ich, weil ich dem Konzept der Individualisierung widersprechen wollte.
Du entwickelst deine Stoffe auf Reisen. Wie beeinflusst das Reisen dein Schreiben?
Ich habe wahnsinnig viel auf Reisen geschrieben. Das ist alles vernichtet worden. Ich hatte mir Interviews nach dem Vorbild von Peter Scholl-Latour überlegt, in denen ich Menschen immer wieder dieselben Fragen gestellt habe, egal wo ich war. So habe ich meine soziologischen Studien machen können. Es gibt noch einen anderen Grund: Durch den Missbrauch und meine Traumatisierungen habe ich ein Nervenleiden. Wenn ich in den Süden reise, befreie ich mich vom Schmerz. Ich spüre ihn nicht. Das war in der Strafkolonie vermutlich auch so. Ich habe aus dem Reisen und der Flucht eine Arbeitsform gemacht, um die Welt zu erforschen. Ich war in Lappland und bin den Lebensstationen meines Großvaters nachgereist. Jede einzelne Reise habe ich in ein Projekt verwandelt, um dem ganzen einen Sinn zu geben. Es ist eine Form der Selbstrettung. Da sind wir beim Wort Nomade, »no mad«, man ist einfach nicht verrückt, wenn man geht. Ich wurde körperlich fit und war gut gelaunt. Ich konnte auf Reisen erkennen, wo meine Zwangshandlungen liegen, und mich verorten, mich abwerfen. Ich bin in die unberührte Natur gegangen, war in extremen Naturgebieten und mit Survivaltypen unterwegs. Ich bin durch die Wüste, durch Urwald und durch Fluchtrouten gegangen, wo Schleuser die Leute ermorden und sich niemand durchtraut.
Du hast Hermann Hesse und Franz Kafka angesprochen, welche Autoren haben dich beeinflusst?
Selbst Hesse, den ich nicht mag, hat mich stark beeinflusst, aber nicht in meinem Schreiben, sondern in meinem Leben. Beeinflusst hat mich das Bücherregal meines Vaters, die Bücher, die er nicht gelesen hatte, was ich nicht wusste. Ich wollte meinem Vater nahekommen und habe Literatur gelesen, die überhaupt nicht altersgemäß war. Ich hatte nur diese Schriftsteller, sie waren meine Wegbegleiter, das ist hochromantisch. Mit ihnen versuchte ich, ein abenteuerliches Leben zu führen. Da waren die Abenteuer von Jack London, die ich verschlungen habe, oder Joseph Conrad. Ohne George Orwell würde nichts für mich gehen, weil er soziale, politische, ideologische Fragen an sein Umfeld gestellt hat. Und dann ganz wichtig Arthur Koestler. An Hemingway hat mich beeindruckt, wie direkt er in seine Storys einsteigt.
Das machst auch du in deinem Roman. Du gehst direkt rein in die Geschichte und überraschst uns immer wieder. Lieber Hubertus, vielen Dank für das Gespräch.
© Das Gespräch führte Friederike Römhild, Berlin, den 11. Juni 2024.
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Liebe Leser:innen, wir laden Sie herzlich ein zur Buchpremiere mit Hubertus von Prittwitz, dem Europa Verlag und Friederike Römhild!